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„Ich bin niemals nicht am Recherchieren” – Interview mit Alicja Schindler

Alicja Schindler wurde 2025 mit dem renommierten AICA-Preis für Junge Kunstkritik ausgezeichnet, den sie sich mit Anne Küper teilt. Die hochkarätige Jury – bestehend aus den Kunstkritiker:innen Laszlo Glozer, Sophia Roxane Rohwetter und Ellen Wagner, der Kunsttheoretikerin Kerstin Stakemeier und der Schriftstellerin Ann Cotten – entschied einstimmig, den mit 12.000 Euro dotierten Preis zu teilen, um der Vielfalt aktueller Tendenzen in der Kunstkritik gerecht zu werden. Die Jury würdigte Schindlers Arbeit besonders für ihre „thematische Bandbreite sowie durch Originalität und Erfindungsgabe, mit der sie Formate aus ihren Sujets und Begegnungen heraus entwickelt”. Ihre Texte verkörpern laut Jury einen Ansatz, der sich auf eigene Erfahrungen stützt und das Ringen um das Sprechen und Schreiben über Kunst reflektiert. Schindlers Kunstkritiken und Porträts erscheinen in renommierten Publikationen wie Artforum, Berliner Zeitung, Monopol, Tagesspiegel und ZEIT Online. Neben ihrer Tätigkeit als freie Journalistin arbeitet sie als Redaktionsassistentin für die Zeitschrift für Medienwissenschaft und als freie Mitarbeiterin der Wochenzeitung „der Freitag”. Aktuell bereitet sie ihre Promotion in Kunstwissenschaft vor. Im Gespräch mit Alicja Schindler diskutieren wir die prekäre Lage des Feuilletons, ihre Arbeit für die 13. Berlin Biennale, und ihre Faszination für Künstler:innen wie Cemile Sahin, die an den Grenzen verschiedener Medien arbeiten.

Wie geht es der Kunstkritik heute? 

Nicht so gut! Der Platz für das Feuilleton schrumpft. Außerdem kommen immer noch zu wenige Autor*innen zu Wort, die meisten Artikel schreiben Männer. Ausstellungsbesprechungen werden immer seltener. Es gibt mehr Raum für Literatur und Theater, immer öfter verhandelt das Feuilleton auch explizit politische Themen – aus einer kulturellen Perspektive. Was ja an sich gut ist, allerdings wäre es schön, dann insgesamt mehr Platz zu haben, sodass die Reviews auch unterkommen. Das könnten, finde ich, auch kürzere Formate sein, wie zum Beispiel die „Critic’s Picks“ bei Artforum. Diese Besprechungen haben nur maximal 300 Wörter. Ein ähnlich knappes Format gibt es hierzulande meines Erachtens nicht. Dass weniger Ausstellungsbesprechungen gedruckt werden, gilt nicht nur für den deutschsprachigen Medienraum. In der New York Times nehmen aktuell Streaming-Tipps überhand. Die Bezahlung ist zudem sehr schlecht. Würde ich über Politik schreiben, wären meine Texte besser bezahlt. Von der Kunstkritik lässt es sich nicht leben, auch wenn ich das gern würde. Die Jobs, mit denen man das Leben finanziert, und die den Hauptteil der Zeit einnehmen, müssen dabei aber auch gut ausgewählt sein. Denn von Kunstkritiker*innen wird immer noch erwartet, möglichst objektiv zu sein.

Wie balancierst du deine Arbeit als freie Journalistin, Redaktionsassistentin und angehende Doktorandin?

Aktuell arbeite ich 80 Prozent als Redakteurin für die 13. Berlin Biennale. Ich schreibe am Wochenende und an meinem freien Tag die Woche. Meine Tätigkeit als Redaktionsassistentin ist projektbasiert, jeweils zu den beiden jährlichen Erscheinungsterminen der Zeitschrift für Medienwissenschaft, sodass ich mir das gut einteilen kann. Das Exposé für die Dissertation liegt aktuell in der Schreibtischschublade.

Die AICA-Jury lobt deinen Ansatz, „Formate aus Sujets und Begegnungen [zu] entwickeln“. Kannst du uns mehr über diesen Ansatz erzählen?

Oft ist es ja so, dass man das, was man macht, selbst gar nicht kategorisiert und erst, wenn jemand Außenstehendes die eigene Arbeit beschreibt, ein bisschen besser begreift, was man da eigentlich treibt. So ist es für mich in diesem Fall. Ich meine zu verstehen, auf was die AICA-Jury anspricht: In meinen Porträts – die ich eigentlich am liebsten schreibe – treffe ich Künstler*innen oft in Vorbereitung auf eine Ausstellung, sodass aus dieser Begegnung im Atelier ein Format entsteht, das zwischen Porträt, Ausstellungsbesprechung oder -vorankündigung und dem jeweils darin verhandelten Thema changiert. Ein gutes Beispiel dafür ist mein Porträt über Marta Dyachenko, das bei ZEIT Online erschienen ist. Über die Begegnung und ihre Ausstellung konnte ich in dem Stück viele anknüpfende politische und historische Themenkomplexe beschreiben: Es ging um Architektur, die Geschichte der Volksbühne und des Rosa-Luxemburg-Platzes, Ost-West-Beziehungen und den Krieg in der Ukraine. Das alles hat sich aus dem Gespräch über ihre Kunstwerke ergeben. Und genau das mag ich: Wenn sich (politische) Themen aus der Kunst heraus ergeben und nicht andersherum.

Welche Rolle spielt Interdisziplinarität für dich? Wie unterscheidet sich dein Ansatz beim wissenschaftlichen und kunstkritischen Schreiben?

Beides befruchtet sich. Das wissenschaftliche Schreiben und die philosophischen Fragestellungen begleiten mich auch in meinem Alltag und schärfen mein Sehen und meine Wahrnehmung. Ich brauche solche Fragen – zu Kunst, Politik und Philosophie –, die mich in meinem Leben beschäftigen. Ich bin niemals nicht am Recherchieren. Aber nicht im Sinne von aktiv in der Bibliothek, sondern im Sinne des Schauens auf die Welt. Ich habe ein Augenmerk auf ein Thema und dann ergeben sich dominoeffektartig die Verweise, man kommt von einem Text auf den nächsten, findet zufällig Hinweise, das gleicht oft der Arbeit einer Detektivin. Manchmal denke ich auch, das kann doch jetzt kein Zufall sein, wenn ich zum Beispiel jemanden das erste Mal zuhause besuche und beim Durchschauen des Buchregals auf einen Titel stoße, der mich plötzlich weiterbringt. Das Gleiche gilt für das kunstkritische Schreiben, aber hier ist der Takt meines Arbeitens schneller. Weniger basso continuo als erste Violine. Dadurch, dass die Texte in kürzeren Abständen erscheinen, gibt es immer einen direkten Bezug zur Leser*innenschaft und aktuellen politischen Diskursen sowie solchen aus der Kunstwelt. Wenn ich Kunstkritik schreibe, will ich, dass meine Texte verständlich sind – auch für Leute, die vielleicht nicht jedes Wochenende in eine Ausstellung gehen – und gleichzeitig so dicht, dass sie auch Menschen etwas erzählen, die sich tagtäglich mit Kunst beschäftigen. Denselben Anspruch hätte ich eigentlich an das wissenschaftliche Schreiben, aber das scheint mir immer noch sehr für den Elfenbeinturm gemacht zu sein. Die formalen Rahmenbedingungen, innerhalb derer man eine Dissertation schreiben kann, verstärken das. Vielleicht liegt mein Exposé auch deshalb noch in der Schublade. Ich will lieber Texte schreiben, die viele unterschiedliche Leute lesen und interessieren und ihnen vielleicht neue Felder und Perspektiven eröffnen, anstatt für die immer gleichen, oft privilegierten Forschenden. Am besten wäre es natürlich, wenn man wissenschaftlich so schreiben und veröffentlichen könnte, dass die Texte auch diverse Personengruppen erreichen. Aber ich bezweifle, dass eine weniger formale Form des wissenschaftlichen Schreibens dafür ausreichen würde.

Welche aktuellen Kunsttendenzen interessieren dich besonders?

Gerade habe ich eine spannende Recherche zu zeitgenössischen Keramikskulpturen hinter mir. Die Begegnungen mit den Künstlerinnen haben mich zu den Theorien der Philosophin Silvia Federici und der Autorin Ursula K. Le Guin geführt, die mir Aufschluss gegeben haben über die Verwobenheit des Kapitalismus mit der Hexenverfolgung (Federici) und Gefäßen als erste technologische Errungenschaften des Menschen statt phallischer Speere (Le Guin). Das war spannend in Bezug auf die Keramik. Aktuell recherchiere ich zu TGL-Farben – das Pendant zu RAL-Farben in der DDR. Darauf gekommen bin ich, weil ich gerade für eine Malerin, Johanna Silbermann, einen Katalogtext schreibe und ihre Bilder alle in sehr gedeckten Farben gehalten sind. Sie ist in der DDR aufgewachsen und ich habe mir Gedanken dazu gemacht, wie das sein kann, dass es, wie sie es formulierte, „in der DDR keine richtigen Farben gegeben hat“. Außerdem habe ich mich viel mit der Arbeit von Cemile Sahin beschäftigt, da ich eine Review und ein Porträt über sie geschrieben habe. Sie arbeitet als Filmemacherin, Autorin und Künstlerin. Ich finde es interessant, wie sich die Genres in ihrem Schaffen ergänzen und überlappen. Kürzlich habe ich auch über eine Ausstellung mit Fotografien der Schriftstellerin Annie Ernaux geschrieben. Ernaux macht ja eigentlich gar keine Fotos. Das war eine einmalige Sache, aber sie hat sogar einen Essayband darüber verfasst. Im Schreiben über diese Fotos hat sie dann wie nebenbei philosophische Aspekte über die Fotografie (und über das Schreiben ausgehend von der Fotografie) herausgearbeitet. Solche Randphänomene und Überlappungen interessieren mich. Aktuell denke ich natürlich auch viel über das kuratorische Konzept der 13. Berlin Biennale nach. Darin geht es um die Fähigkeit eines Kunstwerks, eigene Gesetze zu definieren und die Rolle, die Humor dabei spielt.

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